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Die Heringe sind da

Wenn Ende Februar/Anfang März die ersten Heringe an der Küste aufschlagen, wird jeder Meerforellenangler nervös. Denn wo die Heringe sind, sind die Heringsfresser nicht weit. Aber ich will mich hier nicht den Heringsfressern widmen, sondern dem Hering himself. Es ist jetzt seine Zeit, seine Show. Er führt uns die Kapitalen an die Küste. Er hat es somit verdient.

Bei besonderem Lichteinfall strahlt er stahlblau bis violett. Manchmal ist ein goldener Schimmer auffällig, und auch ein smaragd- bis dunkelgrünes Schillern wird ihm nachgesagt. Angesichts dieser Beschreibung ist man geneigt, an einen Edelstein zu denken. Aber die Rede ist vom Hering.

Das Heringsleuchten muss ein Naturschauspiel von unvergleichlicher Schönheit gewesen sein. Es wiederholte sich jedes Jahr, wenn die Heringe zum Laichen in die küstennahmen Gewässer der Nord- und Ostsee einzogen. Dicht unter der Wasseroberfläche schwimmend, reflektierten die riesigen Schwärme das Mondlicht so stark, dass die See meilenweit glänzte und funkelte, als würde das Meer einen neuen Stern gebären. Noch im 19. Jahrhundert waren diese Schwärme oft so gewaltig, dass die Bewohner der flachen Buchten sie sogar bei Tageslicht kommen sahen. Dann begann die See zu strahlen und zu gleißen, dass die Fischer geblendet waren, während sie ihre Boote in die Brandung schoben. Mitunter konnten sie die Heringe mit Keschern und Zubern aus dem Meer in die Fischkästen schaufeln. Manchmal wurde ein Boot durch die Masse der Leiber sogar über die Wasseroberfläche gehoben und kenterte. Die See schien nur noch aus Fischen zu bestehen und wenn Wind aufkam, warfen die Wellen die Heringe zu Tausenden ans Ufer. Angesichts dieses Heringssegens war es kein Wunder, dass der Reichtum der Meere bis ins 20. Jahrhundert als unerschöpflich galt. Mit dem Hering zeigte sich die Natur dem Menschen in all ihrer ausschweifenden Fülle.

Hering in Salzlake

Wer die Zeugnisse des Herings in der Natur und Kulturgeschichte betrachtet, wähnt sich daher zunächst selbst in einem unübersichtlichen Schwarm von Geschichte und Geschichten. Auf den Hering gründeten sich seit Menschengedenken Reiche und Vermögen; wenn er ausblieb, gingen sie unter und verschwanden. Nicht nur das britische Empire, auch Frankreich und Preußen hätten es ohne ihn kaum zu Großmächten geschafft. Im Mittelalter wurde der Hering mit Gold und Pelzen aufgewogen. Die Kaufleute der Hanse erließen Gesetze und Gütesiegel, um die Qualität ihres Salzherings gegen die zahlreiche Billigkonkurrenz zu schützen, und erbauten ihre stolzen Backsteinkathedralen und Rathäuser an Ost- und Nordsee mit Heringsgeld. Selbst Amsterdam, heißt es, ist auf Heringsgräten errichtet worden.

Alchemie und Medizin haben sich seiner bedient, er wurde als Heilmittel ebenso geschätzt wie als Fastenspeise. Der Volksmund hat ihn in Märchen und Sagen verewigt und in Bräuchen und Sprichwörtern gefeiert. Er wurde zum „König der Fische“ gekrönt und als „Silber des Meeres“ gehandelt.

Heringe wurden in den Hütten der Ärmsten, auf fürstlichen Banketten und sogar bei den Empfängen des Politbüros im Kreml aufgetragen. So kam es, dass der Hering, wie Fischer auf plattdeutsch sagen, ein „plietscher Fisch“ wurde. Plietsch leitet sich von „politisch“ ab und bedeutet so viel wie listig und gewitzt.

Winslow Homer, Das Heringsnetz, 1898

Auch die Künste haben sich schon früh seiner angenommen und ihn in Liedern und Gedichten portraitiert. Der Hering ist in Theaterstücken, Romanen und Filmen aufgetreten, er wurde in Öl gemalt und in Kupfer gestochen. Shakespeare und Goethe haben ihm ihren Tribut gezollt, ebenso wie Bertolt Brecht und Heiner Müller, Pieter Bruegel und Caspar David Friedrich.

Trotz aller natürlichen und künstlerischen Fülle verdankt der Hering seinen Aufstieg zum wichtigsten Speisefisch neben Kabeljau und Seelachs auch religiöser Strenge: Die mittelalterlichen Fastengebote, verbunden mit seiner guten Haltbarkeit durch Salz und Rauch, sorgten dafür, dass Olaus Magnus um 1555 in seiner Beschreibung der Völker des Nordens schreiben konnte, „der Herinck speyset fast gantz Europa“. Vielleicht gerade wegen seiner Verbreitung gilt der Hering vielen noch immer als glotzäugiger Langweiler, der stumm und ergeben mit dem Schwarm in die Netzte schwimmt, gerade gut genug als säuerlicher Belag auf dem Fischbrötchen oder als Katerhappen im Neujahrssalat.

Heringsfang, Holzschnitt 1555 AD

Dabei ist er bei näherer Betrachtung ein ebenso weltgewandter wie weltbewanderter Fisch. Das mag nicht jeder bemerken, denn wie alle wahren Individualisten kommt er äußerlich unauffällig daher. Schließlich kleiden sich wirklich originelle Geister dezent und ziehen es vor, ihre Brillanz in Gedanken und Taten und nicht mit ihrer Garderobe zu zeigen. Seine schlichte Eleganz ist allen exotischen Farbenspielen zeitlos überlegen.

Gejagt zu Wasser, vom Land und aus der Luft hat er zudem Überlebens-Strategien entwickelt, mit denen er seinen Jägern durch die Jahrhunderte entkommen und seiner Ausrottung immer wieder entgangen ist. Nur einem Individualisten, der klug genug war, seine Erfahrungen im Schwarm zu sammeln, konnte so ein welthistorischer Siegeszug glücken.

Solange du noch schwimmst durch Meer und Belt,

so lange, Hering, ist noch Hoffnung für die Welt. Max von Jasmund, Ode an den Hering



Knæk og bræk 👋🏻

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